Wie alles anfing
Es war keine wirklich freiwillige Entscheidung, welche mich in die Medizin gestellt hat. Der erste Kontakt kam über einen sehr kuriosen Umweg. Auf der dringenden Suche nach Arbeit wurde mir angeboten aushilfsweise “Essen auch Rädern” für einen ausgefallenen Fahrer zu übernehmen. Dass das Deutsche Rotze Kreuz mein Arbeitgeber war, interessierte mich nur am Rande. Es war ein Einstieg in die Welt des Geld Verdienens, nach einem abgebrochenen Jurastudium. Schon nach wenigen Wochen wurde ich gefragt ob ich nicht auf Dauer im “Krankentransport” arbeiten wollte. Das träfe sich gut, wenn ich dann einmal Zivildienst machen würde. Dann wäre ich schon eingearbeitet.
So begann mein Abenteuer in einer Welt, die sich heute als Rettungsdienst darstellt. Meine einzige Bedingung erwies sich als Wegweiser: “Ich mache das im Krankentransport, wenn ich eine Ausbildung bekomme.” Kein leichter Weg diese Ausbildung tatsächlich umzusetzen und mehr oder weniger zu erzwingen. Ein gutes erstes Testen der Grenzen. Ja ich hätte das Rote Kreuz verlassen, wenn die Ausbildung nicht umgesetzt worden wäre. Gleichzeitig der Beginn teilweise kurioser Lernweisen. Die erkennbare Insuffizienz der Ausbilder wurde zu meinem Ansporn besser zu werden.
Angekommen im Krankentransport übernahm schnell “das Leben selbst” mein Training. Die erste Verstorbene, deren Tod ich nicht herbei führte, aber doch wesentlich beschleunigte, wenn ich heutige Maßstäbe des Wissens und der Erfahrung anlege. Die Zeit des Fanatismus. Einer der Besten sein zu wollen, um endlich diesen Irrsinn des Sterbens zu verhindern. Tage im Op-Saal der Klinik während der Nachtdienstwochen um besser zu werden. Englische Bücher weil die deutschen Bücher zur Reanimation schon mehrfach durchgearbeitet waren. Erste erfolgreiche Reanimationen, Maßnahmen unter Berufung auf den “Rechtfertigenden Notstand”. Wir wurden ein wirklich gutes Team. Die Besten der Region, wenn es darum ging medizinische Notfälle zu lösen.
Es brauchte drei Jahre, bis es dem Leben zu viel wurde und ich in einer Woche (acht Tage) umgepolt wurde. Der fanatische, unbarmherzige Reanimateur wurde zu einem denkenden, wahrnehmenden Wesen gewandelt und ich begann endlich den Weg der Erfahrung in gänzlich neuen Gebiete des Lebens. Nicht, dass ich irgendetwas vergessen hätte. Keine Gehirnwäsche, eher eine Erweiterung der Fähigkeiten und des Denkens. Verbunden mit dem aufkeimenden Gedanken, dass ich vielleicht aus einem Grund diese Arbeit mache. Die Konzentration auf Reanimationen wich und ich wurde professionell bei allen Situationen.
Das reichte “dem Leben” offenbar nicht. Eine innere Stimme beendete die friedliche Zeit der Koexistenz und forderte mich auf Medizin zu studieren. Die mangelnde Chance angesichts meiner Abiturnoten und irgendwo im Hinterkopf auch die Herausforderung “das kannst du besser”, wenn ich Ärzte (selten gab es damals auch Ärztinnen) am Einsatzort traf, führten dazu, dass ich mich tatsächlich bei der zentralen Vergabestelle (ZVS) für Medizinstudienplätze beworben habe. Vieles änderte sich mit der Zulassung zum Studium und meiner Feigheit diese Chance nicht zu ergreifen. So wurde ich zum Student der Medizin. Mit einem halben Arbeitsvertrag beim Rettungsdienst hielt ich mich und die Familie finanziell über Wasser und nicht zuletzt auch mich beim Studium. Die zunehmenden Erfahrungen praktisch und auch theoretisch oft deutlich besser zu sein und trotzdem immer mit Sorge darauf wartend welcher Arzt zur Türe herein kommt. Eine Zeit in der mich wohl nur das jugendliche Alter vor einem Magengeschwür bewahrt hat.
Als Mediziner änderte sich alles. Ich legte meine erste legale Infusion und musste so laut lachen, dass die Patientin erschrocken aufschaute. Nun durfte ich Medikamente verordnen, Diagnosen festlegen, Entscheidungen treffen. Eine vollkommen neue Welt eröffnete sich und ich begann zu ahnen, dass wir alle gleich sind. Wir wandern von Stufe zu Stufe, bekommen unterschiedliche Aufgaben von unseren Mitmenschen und vom Leben gestellt und lernen uns klarer damit auseinander zu setzen und Herausforderungen anzunehmen. Ich lernte den Unterschied zwischen der Wahrnehmung der Herzen der Menschen und ihrem äußeren Schutzpanzer. Ich lernte die unterschiedliche Bewältigungsstrategien der Kolleginnen und Kollegen mit den Wandlungen eines immer mehr an Wirtschaftlichkeiten ausgerichteten Systems der Medizin klar zu kommen. Erstmals erkannte ich den Wert von Menschen, die eine wesentliche Entwicklungsrolle für mein Leben hatten. Der wohl menschlichste Chirurg, der Patienten so warmherzig zugewandt war, dass es ganz selbstverständlich war, dass der Mensch im Mittelpunkt aller ärztlichen Kunst steht. Meine Familie, die mich am Boden verhaftete. Spirituelle Begleiter, die mir Zusammenhänge zwischen Körpern und der Natur lehrten bis ich anfing direkt in der Natur zu lesen.
Wie ein zweites berufliches Leben begann die Zeit als Dozent durch einen Anruf im Arztzimmer der chirurgischen Station während der Mittagspause. “Sie sind unser Mann”, begann die weibliche Stimme das Gespräch und ich beendete es mit den Worten: “Und Sie sind falsch verbunden”. Heute noch rechne ich es dieser Schulleiterin hoch an, dass sie erneut angerufen hat, sich entschuldigte, vorstellte und mir eine Honorartätigkeit als Dozent für Altenpflege angeboten hat. Heute wüsste ich nicht, wie ich ohne diesen Grundstein in die Lehrtätigkeit gefunden hätte. Noch weniger hatte ich damals eine Ahnung, dass Lehrtätigkeit zu einem wesentlichen Teil meiner beruflichen Tätigkeit als Mediziner werden würde.
Heute bin ich überzeugt, wir brauchen einen Wandel zu einer lehrenden Medizin. Das Staunen über die Phänomene des Körpers und die Möglichkeiten diesen durch Medizin zu unterstützen, gilt es wieder zu leben. Ein tiefes Verständnis der Eingebundenheit in die natürlichen Vorgänge und das Studium dieser Zusammenhänge bieten uns eine Chance aus der aktuellen Sackgasse der “modernen Medizin” herauszufinden. Ich weiß, dass viele von “uns älteren” im Gesundheitswesen ähnliche Biographien haben und es gilt unsere anfängliche Begeisterung für Menschen da zu sein, wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Eine nachhaltige Medizin ist eine Medizin, die sich an den Bedürfnissen des betroffenen Menschen ausrichtet. Wir ärztlich tätigen Menschen, genauso wie die Therapeuten und pflegerisch tätigen Menschen sind “nur” die Unterstützer, die Helfer der Menschen. Im Zentrum des Lebens steht der individuelle Weg jedes einzelnen Menschen. Jede Grenze, die uns gesetzt wird durch sogenannte “Wirtschaftlichkeiten” ist eine falsche Grenze. Wenn wir glauben wir haben nicht die Zeit für die Arbeit verwechseln wir das Unwesentliche mit dem Wesentlichen. Für das Leben und die Menschen ist immer Zeit. Wir werden sie einsparen an den unwesentlichen Dingen, der falschen Dokumentation, dem Studium der Verordnungen und Regularien zur Abrechnung. Wir werden schuldig, wenn wir die Zeit nicht zur Verbesserung unserer Fähigkeiten einsetzen, zur Reflexion unserer Erfahrungen, damit wir dem Menschen besser helfen können.
Alles beginnt damit, dass wir kontakten. Mit dem Menschen der uns das Wissen verweigert um ihm zu sagen wie schändlich sein Ansinnen ist, Mit dem Bürokraten, der unsere Zeit verbraucht, die wir so dringend beim Patienten brauchen. Und zu allererst mit dem Menschen, der uns als Patient begegnet. Wenn wir nicht verstehen was seine Geschichte ist, seine Symptome sind, sein Anliegen ist, werden uns noch so aufwendige Untersuchungen, noch so viele Besuche beim Spezialisten nicht helfen ihn zu unterstützen. Unsere Verantwortung ist die Beurteilung des medizinischen Wissens in Bezug auf seine Relevanz (Bedeutung). Der Bezug von Wissen und Erfahrung auf die Situation des Menschen wird zum wesentlichen Qualitätskriterium in der Medizin.
Nun es sind noch 46 Tage bis zum Lehr – Lern – Marathon 2023. Wieder eine der Gabelungen, an der ich nicht wirklich freiwillig und freudig die Richtung entschieden habe. Letzter Funke für die Umsetzung war eine Studentin, die die Idee kannte, nachfragte und mein Zweifeln beantwortete:
“Sie müssen das machen, sonst bereuen Sie es eines Tages.”